Jul 05 2018
Tag der offenen Tür(en) – schwer bewaffnete Eindringlinge besetzen den Langen August und entwenden Server aus dem WiLa (sic!)
Updates (18.7.2018, 19 Uhr): Nach längerer Zeit und zwei separaten Texten („Bure ist überall – jetzt auch in Dortmund“ und „Rechtsfreie Räume – für die Polizei:-(„) hier eine kleine Liste relevanter Entwicklungen in Sachen Razzia:
- Für die Kosten der neuen Türen haben wir immer noch keine Abschätzung, sind aber dennoch sicher, dass die bisher eingegangenen Spenden dafür ausreichen werden. Uff! Danke für diese Solidarität, mit der ihr uns einen schweren Stein vom Herzen nehmt und zeigt, dass euch ein freies Internet wichtig ist!
- Die Staatsanwaltschaft Köln hatte unserer Beschwerde vom 6.7. bzgl. Herausgabe der nicht vom Beschlagnahmebeschluss abgedeckten Gegenstände am 6.7. teilweise entsprochen (s.u.). Die drei vom LKA außerhalb des WiLaDo beschlagnahmten Gegenstände wurden mittlerweile an die Eigentümer*innen herausgegeben.
- Am 12.7. beschloss das Amtsgericht Köln, dass die anderen Gegenstände, die das LKA außer dem beschlagnahmten systemausfall-Server aus dem WiLaDo mitgenommen hatten, für bis zu einem halben Jahr (3.1.2019) zum Zwecke der Durchsicht nun auch beschlagnahmt sind. Auch dagegen werden wir Beschwerde einlegen, weil die Begründungen u.E. haarsträubend sind. Weitere Infos dazu findet ihr gegen Ende des Textes „Rechtsfreie Räume – für die Polizei:-(„. Dass der Richter der Polizei glaubt, ist vielleicht nicht empfehlenswert, aber dennoch naheliegend. Was die Motivation der Polizei ist, ihm solche Geschichten vorzulegen, ist für uns unklar, auch wenn einem naheliegende Spekulationen dazu einfallen.
Update (8.7.2018, 15:00): Wir möchten uns hier schon mal ganz herzlich für die vielen Solierklärungen, die Demo, schon eingegangene (und hoffentlich weiter eingehende) Spenden und Hilfsangebote bedanken! Ganz besonders freut uns die aktuell laufende Aktion von chefduzen.de. Das Forum ist mit einer Erklärung vorübergehend vom Netz genommen worden: http://chefduzen.de/
Update (7.7.2018, 16:40): Gestern, um 17:41 Uhr erhielten wir ein Fax von der Staatsanwaltschaft Köln: Notebook, Festplatte und Smartphone werden zurück gegeben, da sie für das Ermittlungsverfahren keine Bedeutung haben.
Update (7.7.2018, 13:00): Zusammenstellungen der Presseberichte gibt es bei systemausfall.org und labournet.de
Update (7.7.2018, 10:00): Überarbeitung, Aktualisierung und Ergänzung unseres Textes vom 5.7.
Update (5.7.2018, 18:30): Wer es genau wissen will, hier gibt es Durchsuchungsbeschluss, Beschlagnahmeprotokolle usw. (34 MB)
Dies ist eine (weiterhin) vorläufige Nachricht über das Geschehen am Abend des 4. Juli 2018 im Langen August, Braunschweiger Str. 22, 44145 Dortmund, in dem sich auch die Räumlichkeiten des Wissenschaftsladen Dortmund (WiLaDo) befinden. Sobald wir mehr über die Ereignisse, Dokumente etc. wissen, bemühen wir uns um updates. (Wir bitten um Verständnis, dass wir als kleiner, ohnehin schon chronisch überlasteter Verein, z.Z. nicht auf Anfragen von Medienvertretern individuell reagieren können, freuen uns aber weiterhin über das Interesse!)
Zum Tathergang
Laut Zeugenaussagen drangen nach 19 Uhr (Durchsuchungsprotokolle: 19:20) viele, mit Maschinenpistolen bewaffnete Uniformierte in das soziokulturelle Zentrum Langer August in der Dortmunder Nordstadt ein und hielten die dort Anwesenden zunächst fest. Sie führten einen Durchsuchungsbefehl mit, der sich auf den Wissenschaftsladen Dortmund e.V. bezog. Dessen ungeachtet durchsuchten die Eindringlinge den gesamten Langen August mit Ausnahme von zwei Bereichen.
Den Durchsuchungsbefehl hatte das LKA Köln erwirkt, aber die Aussicht, mal was Angenehmes zu erleben, zB ein soziokulturelles Zentrum von innen, hat die Dortmunder Polizei offensichtlich zum Trittbrettfahren auf dieser „Maßnahme“ animiert [1]. Eine Auflistung der Rechtswidrigkeiten [2] seitens der organisierten Gewalt, die wir an diesem Abend erleben durften, werden wir angehen, sobald die Faktenlage erhellt ist. Dazu bitten wir auch alle Zeug*innen der „Maßnahme“, Gedächtnisprotokolle anzufertigen – und die Leser*innen um Geduld.
Ziel des LKA war ein Server, der eine IPv4-Adresse aus dem Adressbereich des WiLaDo hatte und darüber die Website <https://bure.systemausfall.org/> verfügbar machte. Dieser Server verschwand um 21:38 Uhr aus dem Internet.
Bis dahin hatten die Eindringlinge etliche Menschen im Langen August festgesetzt (u.a. im Chaostreff Dortmund [3]) und fünf Türen zerstört, davon drei im Wissenschaftsladen. Für die Vollendung dieser brachialen Aktion – Ohrenzeugen berichteten vom ca. halbstündigen Einsatz eines Rammbocks – hat die Polizei nach Zeugenaussagen auch noch die Feuerwehr bemühen müssen. Es wurde seitens der Eindringlinge nicht versucht, mit dem WiLaDo (oder den Serverbetreibern) Kontakt aufzunehmen, um die (vierstelligen) Schäden [4] zu vermeiden – im Gegenteil: Vorstandsmitgliedern des WiLaDo e.V. (und unserer Anwältin) wurde der Zutritt zum Gebäude verwehrt und der Durchsuchungsbeschluss erst spät zur Kenntnis gegeben – da waren die Schäden schon entstanden.
Unseres Wissens hat die Polizei die Maschinenpistolen erst aus dem Langen August abgezogen, als ihr klar war, dass sich auch im letzten durchsuchten Raum keine bewaffneten Personen befinden. Dieser Raum war eben der Serverraum! Wir wissen nicht, ob die Cybercrime-Polizisten bei Beschlagnahmungen in den Racks von Hetzner, Strato etc. gelegentlich mit Gewehrsalven, Säbeln oder Faustkeilen vom Islamischen Staat bzw. den Militanten Heinzelmännchen „empfangen“ werden, aber – Spaß beiseite – wir können die Angst der Einsatzkräfte vor Gewalt aktuell sehr gut nachempfinden! Hätten wir eine Gelegenheit gehabt, mit den Technikern zu reden, wären wir mit unseren eigenen Körpern zuerst in den Serverraum eingetreten, um die Situation zu entschärfen. (Das ist ernst gemeint! Wir haben naheliegenderweise eben keine Angst davor, den Langen August und unseren Serverraum zu betreten und setzen uns nach Kräften für eine Welt ohne Angst und Gewalt ein.) Bei der Gelegenheit hätte sich nebenbei auch die Zerstörung der Türen erübrigt, da wir – auf den richterlichen Beschluss hin – die Türen mit einem Schlüssel statt mit schwerem Gerät geöffnet hätten.
Entwendet wurde aus dem WiLaDo schließlich vor allem ein Servergehäuse, in dem sich mehrere (stromsparende) kleine Server befanden, darunter das Zielobjekt der „Maßnahme“. Obwohl die „Besucher“ sich stundenlang, abgeschirmt im WiLaDo betätigt haben, so haben sie das Objekt ihrer Begierde offenbar nicht genau ausmachen können, sondern haben das ganze Gehäuse für 4 Server mitgenommen, und nicht nur den gesuchten. Durch diese unnötige Mitnahme von nicht mit der Sache zusammenhängender Hardware sind weitere unnötige Schäden entstanden, da einem Dienst von FREE! die Hardware entzogen wurde. Die Beschlagnahmung durch das LKA hat auch die öffentliche Website eines Radiosenders in den Status „offline“ gebracht [5], und damit auch den üblichen Zugang zum Livestream des Senders. Ob dieser vermutliche Seiteneffekt einen Eingriff in die Pressefreiheit darstellt, wird zu prüfen sein.
Erst nach 23:30 übergaben die Besetzer das Gebäude wieder an die Vereine.
Zu den Hintergründen
Laut Durchsuchungsbeschluss vom Amtsgericht Köln sind über die Website auf dem beschlagnahmten Server gewisse Dokumente verbreitet worden, die von IT-Systemen der französischen Firma INGEROP durch Unbekannte entwendet wurden. In dem Beschlusses werden folgende Dokumente genannt:
- Liste des Personals inkl. persönlicher Informationen zu den ca. 2300 Beschäftigen
- Informationen zum Projekt CIGEO [5], unter anderem
- Pläne von folgenden vier französichen Haftanstalten: Draguignan-Bordeaux, Lutterbach, Saran-Orléans, Caen
- Unterlagen zur Infrastruktur des Atomkraftwerks in Fessenheim (Elsass)
- Unterlagen zur Straßenbahn in Barcelona
Außerdem hätten die Täter auf der von Ihnen betriebenen Website <https://bure.systemausfall.org/> die Veröffentlichung weiterer Dokumente angekündigt.
Der Wissenschaftsladen Dortmund hatte bis zur Lektüre des Durchsuchungsbeschlusses keine Kenntnis von der Existenz der o.g. Website, und noch weniger Kenntnis der inkriminierten Dokumente. Der Zusammenhang von Haftanstalten sowie einer spanischen Straßenbahn mit dem geplanten Atommüllendlager (Cigéo) in der Nähe des französischen Ortes Bure war daher zunächst völlig unklar.
Mittlerweile ist uns eine plausible Interpretation dieser merkwürdigen Zusammenstellung bekannt geworden: Bure in Frankreich ist so etwas wie das Wendland in der BRD. Die Menschen dort haben nicht nur „strahlende Aussichten“ mit hochradioaktivem und „langlebigem“ Atommüll vor sich, sondern auch eine Staatsgewalt, die das Projekt mit allen Mitteln durchsetzen will. Da der (langjährige) Widerstand vor Ort mit immer mehr Repression konfrontiert ist, werden Methoden gesucht, das Projekt trotzdem zu verhindern. Deshalb versuchen die Leute z.Z. durch Kampagnen gegen Firmen, die am Bau dieser absehbaren Katastrophe beteiligt sind, diese Firmen zum Ausstieg aus Cigéo zu bewegen. Dabei wird offenbar auch auf Methoden des „Ausspähens von Daten pp.“ zurückgegriffen, mindestens im Fall der Firma INGEROP, eine Ingenieurfirma mit (laut Durchsuchungsbeschluss) 2300 Angestellten. So eine große Firma plant dann offenbar außer Straßenbahnen und Gefängnissen auch Atomanlagen.
Doch an dieser Stelle wird die Angelegenheit aus unserer Sicht sehr problematisch: eine große Ingenieurfirma, der (laut Beschlusstext) durch eine „SPAM-Mail-Welle Daten der einzelnen Mitarbeiter“ und auf „unbekanntem Weg […] sensible und aktuelle Datensätze“ entwendet werden, qualifiziert sich damit nicht für hochgefährliche Projekte wie Atomanlagen.
Eine „sichere IT“ gibt es genausowenig wie „sichere Atomanlagen“.
Die Staatsgewalt kann die Bevölkerung vor kleinen gemeinnützigen Vereinen schützen, z.B. mit Hilfe von Maschinenpistole und Rammbock – aber was schützt vor Radioaktivität?? (Ach ja, wir erinnern uns: duck and cover;-(
Die völlig unverhältnismäßige, bewaffnete Besetzung eines soziokulturellen Zentrums und der ebenso unnötige wie brachiale Einbruch in den WiLaDo haben uns zumindest einen ersten Eindruck davon vermittelt, warum Menschen keinen anderen Weg mehr sehen, als das „Ausspähen von Daten pp.“.
Immerhin geht es im Text des Durchsuchungsbeschlusses nicht um Zensur – von einer Verhinderung der Verbreitung der Dokumente ist darin nicht die Rede. Wir würden uns also freuen, wenn „ausgespähte“ Dokumente, die zB Relevanz für die Gesundheit der Bevölkerung haben (Kernkraftwerk Fessenheim?), seriös ausgewertet werden. Wir werden das nicht leisten können, vermuten aber, dass dies im Sinne der Allgemeinheit wäre.
Aus gegebenem Anlass und überhaupt schließen wir mit der Bitte an die geneigte Leserschaft, unsere Bemühungen (weiterhin) zu unterstützen: nicht nur gegen Rammböcke, sondern vor allem für Bildung, Wissenschaft, Nachhaltigkeit und freie Infrastruktur.
[1] Im Durchsuchungsprotokoll der Dortmunder Polizei wird als Anordnung für die Durchsuchung der vom LKA erwirkte Beschluss des Kölner Amtsgerichts angegeben. Dieser bezieht sich ausdrücklich auf die Räume des Wissenschafsladen Dortmund e.V. und das Delikt „Ausspähen von Daten pp.“, aber nicht auf „Zufallsfunde“ an irgendwelchen Orten im Haus, die nichts mit der Sache (Serverhousing des WiLaDo) zu tun haben. Die Krönung: „Die Dortmunder Polizei wiegelt ab. Sie habe mit dem Einsatz nichts zu tun.“ <https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/kritik-an-polizei-nach-razzia-in-dortmund-100.html>
Die ganze Welt kann sich über den obigen Link auf die Dokumente (IMG_1797.JPG und IMG_1798.JPG) vom Gegenteil überzeugen.
[2] Diese auch gerichtlich als rechtswidrig feststellen zu lassen, wird Jahre dauern und bis dahin ebenfalls Kosten verursachen.
[3] Stellungnahme des Chaostreffs Dortmund: <https://www.chaostreff-dortmund.de/2018/07/07/unrechtmaessige-hausdurchsuchung-polizei-reitet-erneut-beim-chaos-computer-club-ein>
[4] Eine bessere Schätzung werden wir am Montag (9.7.) veröffentlichen. (Allen bisherigen und weiteren Spender*innen ganz herzlichen Dank aus Dorfmund!-)
[4] „Pressemitteilung: LKA Köln nimmt Hamburger Radiosender FSK 93.0 vom Netz“, <http://www.fsk-hh.org/> (provisorische Website)
[5] <https://de.wikipedia.org/wiki/Bure_(Felslabor)>: Cigéo (Centre industriel de stockage géologique pour les déchets HA et MA-VL), eine Lagerstätte für hoch- und langlebigen mittelaktiven radioaktiven Abfall.
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