Nov 02 2018
Kommentar zu „Hacker erbeuten Pläne von Atomanlagen“ auf tagesschau.de
Laut Meldung auf tagesschau.de [1] haben Journalisten von NDR, Süddeutscher Zeitung und Le Monde die bisher geleakten Dokumente des französischen Unternehmens Ingérop ausgewertet. Das ist bei „mehr als 65 Gigabyte“ Material eine dankenswerte Arbeit! Wir hoffen, dass der Öffentlichkeit noch substantiellere Informationen bekannt gemacht werden, als in der Meldung vom 1.11. Zu dieser Meldung möchten wir einige Korrekturen und Ergänzungen beitragen.
Die Publikation der geleakten Dokumente erfolgte offenbar in zwei Lieferungen. Die erste am 29.6.2018 [2], die zweite am 6.9.2018 [3]. Viele Dokumente aus der ersten Lieferung sind nach wie vor im Web abrufbar. Welche der Dokumente auf dem Server von systemausfall lagen, der am 4.7.2018 im Wissenschaftsladen Dortmund brachial beschlagnahmt wurde, wissen wir nicht, da wir erst nach der Beschlagnahmung von der Existenz der Website „https://bure.systemausfall.org/“ erfahren haben. Außer den immer noch auf [2] zugänglichen Dokumenten sollen laut den Gerichtsbeschlüssen zu „unserer“ Razzia auch Pläne des AKW Fessenheim [4] auf dem systemausfall-Server publiziert worden sein.
Die zweite Publikation erfolgte dann etwa zwei Monate später unter einer .onion Adresse, war also nur über das Tor-Netzwerk [5] zugänglich („Darknet“). Dadurch wurde der Polizei die Möglichkeit einer Beschlagnahmung des physikalischen Servers, auf dem diese zweite Lieferung lag, mangels Rückverfolgbarkeit von Tor-Verbindungen genommen.
tagesschau.de: „Nach den Durchsuchungen in Dortmund, bei denen auch Server beschlagnahmt wurden, waren die Daten zunächst größtenteils aus dem Netz verschwunden.“
Hier stellt sich die Frage, woher die Journalisten wissen, welche Dokumente tatsächlich auf dem systemausfall-Server lagen, sodass sie beurteilen können, dass nur der kleinere Teil der Dokumente auf [2] weiterhin verfügbar ist, während der größere Teil durch die Beschlagnahmung in Dortmund offline ist.
tagesschau.de: „Französische Aktivisten hatten zuletzt dazu aufgerufen, geheime Informationen aus dem Unternehmen an die Öffentlichkeit zu spielen.“
In dem Aufruf der Anti-Atom-AktivistInnen vom 10.6. wird Ingérop zwar erwähnt, es wird aber nicht zu konkreten Aktionen aufgerufen:
„While the place of CIGEO project is more and more a military stronghold full of surveillance and state violence, the weak points of the whole structure could be find in other places. They can put enormous number of armed forces in one place but they are not able to secure all the places where the corporations working on CIGEO are. Let’s start focusing on all their weak points until ANDRA has no contractors anymore to do their dirty jobs.
We are not asking for any specific type of action: be creative and feel free to do whatever you would like to.
In France, the campaigns targets specifically a company called Ingérop. They are mostly present in France but also have agencies elsewhere in the world. On the other pages you will find lists of other companies that work for the Cigéo project.“ [6]
(Übersetzung: Während sich der Ort des CIGEO Projektes als zunehmend militarisierte Festung voller Überwachung und staatlicher Gewalt darstellt, könnten die Schwachpunkte der ganzen Struktur an anderen Orten gefunden werden. Sie können eine enorme Anzahl bewaffneter Kräfte an einen Ort konzentrieren, aber sie sind nicht in der Lage alle Orte zu sichern, an denen sich Firmen befinden, die für CIGEO arbeiten. Lasst uns alle ihre Schwachpunkte fokussieren, bis ANDRA keine Vertragspartner mehr für ihre dreckigen Jobs hat.
Wir rufen nicht zu einem bestimmten Typ von Aktion auf: seid kreativ und tut was ihr möchtet.
In Frankreich zielt die Kampagne speziell auf eine Firma namens Ingérop. Diese ist vor allem in Frankreich präsent, hat aber auch Niederlassungen woanders auf der Welt. Auf den weiteren [Web]Seiten findet ihr Listen anderer Firmen, die für das Cigéo Projekt arbeiten.)
tagesschau.de: „Ingérop selbst sagt dazu auf Nachfrage, dass der Angriff vor diesem Aufruf stattgefunden hat.“
Den ersten Aufruf und eine Liste von Unternehmen, die am Bau von Cigéo beteiligt sind, gab es bereits am 25. November 2017 [7, 8].
tagesschau.de: „E-Mails aus dem Datenleck deuten darauf hin, dass Ingérop die Landwirte in der Region klassifiziert hat: in ‚kontrollierbar‘ und ’nicht kontrollierbar‘. Das ist möglicherweise ein Versuch, dem Widerstand gezielt entgegen zu wirken.“
Dieses Zitat lässt hoffen, dass auch die betroffene Bevölkerung in der Aufklärungsarbeit der Journalisten eine Rolle spielen wird. Bisher ist man diesbezüglich auf Quellen fern des Mainstream angewiesen. ZB einen Bericht von Robin Wood:
„Sie [Anwohnerin] erklärt, dass es in den vergangenen Monaten nach der Räumung der nahen Waldbesetzung im Februar massive Polizeirepressionen gab. Es fanden auch nachts Hausdurchsuchungen statt, noch heute sitzen Gegner des Endlagerprojektes im Gefängnis. Damit nicht genug, wurden für mehrere Projektgegner dauerhafte Platzverweise erteilt. Sie dürfen ihren eigenen Kreis samt Wohnung und sozialem Umfeld nicht mehr betreten. Außerdem wurden Kontaktsperren verhängt, u.a. zu einem der Bewegungsanwälte, der seit Jahren viele der Aktivisten juristisch verteidigt hat.
Diese Berichte schocken uns. Auch in Deutschland hat sich die Polizeirepression gegen linke Proteste in den letzten Jahren merklich verschärft. Aber dass Menschen aus ihrem Heimatkreis verbannt werden, kennen wir noch nicht als Mittel der staatlichen Repression.“ [9]
Ausführlichere Berichte aus der Region gab es auch in der Monatszeitung Graswurzelrevolution [10, 11, 12].
Weniger offensichtlich als direkte Repressionen gegen die Bevölkerung sind die Abläufe im Hintergrund der beteiligten Institutionen und Firmen. Immerhin gibt es dazu schon eine französische Dissertation. Die Zeitschrift anti atom aktuell berichtete in ihrem Schwerpunkt „Bure ist überall“ im Mai 2018:
„zur Dissertation von Leny Patinaux
Sicherheits-Nachweis: wissenschaftlich unmöglich
[…]
Das Ergebnis aus der Dissertation von Leni Patinaux enthält zwei, für die Nuklearindustrie und die sie unterstützenden Behörden besonders unangenehme Erkenntnisse: zum einen wirft sie ein schiefes Licht auf die Beeinflussungs- und Unterwanderungsstrategien der Atomindustrie auf die Sicherheits- und Kontrollbehörden und das passive Dulden dieses Prozesses durch die unterwanderten Institutionen.“ [13]
Die aktuelle Meldung auf tagesschau.de hingegen fokussiert das Datenleck bei Ingérop, zu dem man aber nichts Handfestes erfährt, weder vom betroffenen Unternehmen noch von den Ermittlungsbehörden. Zum Kern des gesellschaftlichen Konfliktes, dem Atommüll“end“lager bei Bure heißt es lapidar: „Das Projekt befindet sich noch in der Planungsphase.“ Die Repressionen vor Ort (und die Razzia à la Ausnahmezustand in Dortmund) sprechen eine andere Sprache. Wir hoffen, dass die recherchierenden Profis den Bure-Komplex so weit erhellen können, dass auch größere Teile der Bevölkerung zu einem fundierten Urteil über die „Planungen“ kommen können. Dann hätten sich die materiellen und ideellen Schäden, die bisher entstanden sind, wenigstens im Nachhinein noch „gelohnt“.
Wissenschaftlich ist schon seit Jahrzehnten klar, dass es kein „sicheres Endlager“ für Atommüll geben wird. Aus militärischen und Profit-Interessen wurde und wird trotzdem munter Atommüll produziert. Die Folgekosten werden wie üblich sozialisiert, s.o. Same procedure in Sachen Klimaerwärmung und Braunkohleverbrennung. Auch wegen dieser Parallele unsere Bitte an die Journalist*inn*en: Dranbleiben! So wichtig der entschlossene Widerstand der Aktivist*inn*en gegen die fatalen Großprojekte ist – gegen die immer weiter aufgerüsteten Apparate des Staates und der Konzerne haben diese alleine keine Chance. Das Verschleppen des (unlösbaren) Atommüllproblems wird die Gesellschaft wohl auf Jahrtausende und länger belasten – das irreversible Kippen des Klimas ebenso.
[1] <https://www.tagesschau.de/ausland/hacker-akw-gefaengnis-101.html>
[2] <https://attaque.noblogs.org/post/2018/06/29/quelques-documents-internes-dingerop/>
[3] <https://de.indymedia.org/node/24069>
[4] <https://de.wikipedia.org/wiki/Atomkraftwerk_Fessenheim>
[5] <https://de.wikipedia.org/wiki/Tor_(Netzwerk)>
[6] <http://en.vmc.camp/2018/06/10/action-call-cigeo-monsters>
[7] <http://de.vmc.camp/2018/06/19/die-monster-von-cigeo>
[8] <http://de.vmc.camp/2017/11/25/moegliche-ziele-fuer-dezentrale-aktionen-in-deutschland>
[9] <https://www.robinwood.de/blog/stipvisite-bure-ein-dorf-am-atomaren-abgrund>
[10] <https://www.graswurzel.net/gwr/2016/01/grundrechte-kann-man-nicht-auf-dem-sofa-verteidigen>
[11] <https://www.graswurzel.net/gwr/2016/06/bure-waldbesetzung-gegen-den-atomaren-kahlschlag>
[12] <https://www.graswurzel.net/gwr/2018/04/die-bruchlinien-von-cigeo>
[13] <https://anti-atom-aktuell.de/archiv200/273-274/273-274sicherheitsnachweis.html>
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